Leben im Technotop - Technosophie
Sturz der Sirene - Vase

Das Schweigen der Sirenen
Das Entschwinden der Natur

Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:

Beweis dessen, daß auch absichernde, ja harmlose Schutztechniken zur Gefahr werden können:


Der Sturz der Sirenen, Attischer Rote-Figur Stamnos 480/470 v. Chr., The British Museum, London [aus: F. Brommer: Odysseus. Darmstadt 1983]

Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.

Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.

Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Sie aber ­ schöner als jemals ­ streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.

Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schickssalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverszand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.

Um vor der Natur zu bestehen, nahm homo faber Werkzeuge zur Hand und ließ sich durch Einsatz von Maschinen disziplinieren. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Menschen tun können, außer denen, welche die Naturgewalten schon sehr früh entmutigten, aber es war auf der ganzen Erde bekannt, daß diese Technisierung überhaupt nicht nützlich sein konnte. Die Bedrohung durch die Natur erfaßte alles, und die Panik der von Katastrophen Verängstigten würde mehr als deren Selbstdisziplin und Maschinenkonstruktionen auflösen. Darüber reflektierte homo faber jedoch nicht, obwohl er eigentlich davon hätte wissen können. Er baute vollständig auf den experimentell geprüften Artefakten und die aufklärerische Selbstabrichtung und in ahnungslosem Vertrauen auf seine technischen Kniffe nutzte er die Naturgewalten aus.

Nun hat aber die Natur ein noch schrecklicheres Machtmittel als die Todesandrohung, nämlich ihr Entschwinden in der Krise. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand von den tödlichen Bedrohungen der Natur befreit hätte, von der ökologischen Krise gewiß nicht. Der Selbstgewißheit aber, mit dem eigenmächtig Machbaren sie (die Natur) zu beherrschen, der daraus folgenden alles technisierenden Aneignung kann nichts Natürliches fremd bleiben.

Und tatsächlich bedrohte ihn, als homo faber die Ökosysteme vernutzte, die allumfassende Natur nicht, sei es, daß dieser schien, diesen Ingenieur könne nur noch ihr Entzug bremsen, sei es, daß der Ausdruck der Selbstsicherheit in den Handlungen des homo faber, der nichts anderes als Artefakte und Selbstdisziplinierung hervorbrachte, alle Bedrohung verschwinden ließ.

Homo faber aber, um es so auszudrücken, wehrte sich gegen ihr Verschwinden nicht, es schien ihm vielmehr, sie (die Natur) würde ihn weiterhin bedrohen, und nur er als homo faber sei befähigt, sich wirkungsvoll zu wehren. Fordernd erstellte er zuerst die Lagerstätten natürlicher Ressourcen, das gezüchtete Wachstum, die leidenden Nutztiere, die abstrakten naturgesetzlichen Zusammenhänge. Es schien ihm aber, dies gehöre zu den natürlichen Lebensvollzügen, die wehrlos um ihn erstarben. Bald aber gestaltete er alle Umwelt gemäß seiner visionären Projektionen, die Natur verschwand förmlich unter seinem forschenden Zugriff, und gerade als er ihr am nächsten war, begriff er nichts mehr von ihr.

Sie aber ­ erhabener als je ­ bebte und stürmte, ließ zahlreiche Arten in vergifteten Biotopen sterben und verwirrte das Klima in chaotischen Turbulenzen. Sie konnte homo faber letztlich nicht verängstigen, nur noch die Handlungsfolgen aus den riskanten Entwürfen des homo faber konnte sie so unauffällig wie möglich absorbieren.

Hätte die Natur ein reflexives Vermögen, dann würde sie die Apokalypse auslösen. So aber bleibt sie in der ökologischen Krise, nur homo faber hat sich ihr (seiner Natur) entledigt und ist so selbst zum Artefakt geworden.

Es läßt sich übrigens noch eine Folgerung hieraus ziehen. Homo faber, sagt man, war so selbstüberheblich, war eine solche Schlange, daß selbst Gott seine Selbstinszenierung nicht durchschauen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit technischem Verstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich bemerkt, daß die Natur einem kritischem Zustand zustrebt, und hat ihr und dem Sein die obigen technischen Täuschungen gewissermaßen als Spiegel entgegengestellt und so eine Ersatznatur erzeugt.

(1) Franz Kafka:
Das dritte Oktavheft.
In: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt 1983, S.58f

Link: Kafka-Texte online

Link: Text vorgetragen auf You Tube

(2) Klaus Erlach:
Das Entschwinden der Natur.
In: Der blaue Reiter ­ Journal für Philosophie 5 (1999) 9, S.68-69